Montag, 22. August 2022

„Ärzte finden Erklärung für Nahtoderfahrungen.“ Wirklich?

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Ärzte finden Erklärung für Nahtoderfahrungen“: So titelte am 21. März 2022 der Newsletter von BR24. Ähnliche Schlagzeilen erschienen in vielen anderen Medien. Offensichtlich hatte man endlich die naturwissenschaftliche Erklärung für Nahtoderfahrungen gefunden: Kurz vor dem Tod komme es im Gehirn zu einem Anstieg von Gamma-Wellen, wie er typisch sei für lebhafte Träume und Erinnerungen.

Müssen wir also die Hoffnung begraben, dass Nahtoderfahrungen auf ein Leben nach dem Tod hindeuten könnten?


Die Studie

Anlass für die Berichte war eine Studie von Neurochirurgen der Universität Tartu in Estland. Sie hatten das Gehirn eines 87-jährigen Epileptikers an einen EEG-Monitor angeschlossen, als der einen Herzstillstand erlitt. Das Gerät blieb angeschlossen bis 30 Sekunden über seinen Tod hinaus. Es verzeichnete einen Anstieg von Gamma-Wellen kurz bevor das Herz aufhörte zu schlagen und kurz danach. Bereits zuvor hatte man eine ähnliche Verstärkung der Gamma-Wellen bei Ratten mit künstlich erzeugtem Herzstillstand gemessen.

Dann sind also die religiösen und spirituellen Erwartungen, die sich mit Nahtoderfahrungen verbinden, ohne Grundlage? Nahtoderfahrungen faszinieren ja nicht zuletzt deshalb, weil sie sich angeblich auch dann ereignen können, wenn keine Hirnaktivität mehr stattfindet. Wenn das stimmt, dann zeigen Nahtoderfahrungen, dass der Geist sich vom Körper lösen, möglicherweise sogar seinen Tod überleben kann. Aber Pustekuchen: Es stimmt eben nicht, beweist die aktuelle Studie.

Im Ernst? Haben die estnischen Forscher tatsächlich nachgewiesen, dass den Nahtoderfahrungen eine Hirnaktivität zugrunde liegt? Ist Bewusstsein also doch auch in Nahtoderfahrungen stets an Hirnaktivität gebunden?


Stimmen zur Studie aus dem Netzwerk Nahtoderfahrung

Das Netzwerk Nahtoderfahrung griff das Thema in seinem Newsletter vom April 2022 auf. Stellung bezogen darin der Netzwerk-Vorsitzende Joachim Nicolay, der Neurologe Wilfried Kuhn sowie der Journalist Werner Huemer (Thanatos TV), der zudem ausführlich den Sterbeforscher Reto Eberhard Rast zitierte. Sie gaben unter anderem Folgendes zu bedenken:

Der 87-jährige Epileptiker konnte von keiner Nahtoderfahrung berichten, weil er nach den Messungen verstarb. Wir haben von diesem Fall also nur die medizinischen Daten. Und die zeigen nicht einmal ein Nulllinien-EEG, wie man es bei Hirntod eigentlich erwarten müsste. Das liegt daran, dass der Tod während eines epileptischen Anfalls eintrat.

Was wurde gemessen? Das sterbende Hirn eines Epileptikers, der antiepileptische Medikamente erhalten hatte, während eines epileptischen Anfalls. Es ist deshalb anzunehmen, dass die gemessenen Gamma-Wellen mit der Epilepsie zusammenhängen. Denn epileptische Anfälle und antiepileptische Medikamente führen auch sonst zu erhöhten Gamma-Wellen. Dieser Gamma-Anstieg führt bei Epileptikern aber keineswegs zu bewussten Erfahrungen: Noch nie hat ein Patient nach einem epileptischen Anfall von einer Nahtoderfahrung oder einem Zustand klaren Bewusstseins berichtet. Vielmehr können sich Epileptiker nach ihrem Anfall an nichts mehr erinnern, weil sie – Gamma-Wellen hin oder her – bewusstlos waren.

Warum also sollten ausgerechnet in diesem Fall die Gamma-Wellen als Erklärung taugen für eine Nahtoderfahrung, von der wir nicht einmal wissen, ob der Patient sie überhaupt hatte?

Dass die Messungen an diesem einen Patienten Nahtoderfahrungen generell erklären könnten, ist auch aus einem anderen Grund unwahrscheinlich: Nahtoderfahrungen können auch unter physiologisch völlig anderen Voraussetzungen auftreten. Beispielsweise bei völlig gesunden Menschen in Todesangst, unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen oder bei einem Absturz in den Bergen in den Sekunden oder Sekundenbruchteilen vor der Verletzung. Wenn aber Nahtoderfahrungen unter physiologisch völlig unterschiedlichen Voraussetzungen auftreten: Wie sollen dann die spezifischen physiologischen Voraussetzungen eines 87-jährigen Epileptikers ohne bekannte Nahtoderfahrung die Nahtoderfahrungen erklären können?

Dass also ein Anstieg der Gamma-Wellen den Lebensrückblick hervorruft, von dem Nahtoderfahrene berichten, ist reine Spekulation. Darüber können auch Experimente mit zu Tode gequälten Ratten keinen Aufschluss geben. Denn Ratten können weder tot noch lebendig über Nahtoderfahrungen berichten.


Das sagen Bruce Greyson, Pim van Lommel und Peter Fenwick

Zu der Studie der estnischen Neurologen ist auf der IANDS-Website ein Kommentar erschienen, verfasst von den Nahtod-Forschern Bruce Greyson, Pim van Lommel und Peter Fenwick. Sie betonen: Was die Autoren der Studie beanspruchen, ist eine Sache – was die Medien daraus gemacht haben, eine andere.

Nehmen die Studienautoren für sich in Anspruch, dass sie das Geheimnis der Nahtoderfahrungen gelüftet hätten? Keineswegs: Dass die von ihnen gemessenen Gamma-Wellen als Erklärung für Nahtoderfahrungen dienen könnten, bezeichnen sie als Spekulation. Erst die Medien haben den Eindruck erweckt, dass es sich um die ultimative Erklärung von Nahtoderfahrungen handle. Und zwar gegen den Willen der Autoren. Denn die betonen ausdrücklich, dass man ihre Studie nicht verallgemeinern dürfe: Die Gamma-Wellen im Gehirn des 87-jährigen, schränken sie ein, könnten zusammenhängen mit seiner traumatischen Hirnverletzung, den verabreichten Medikamenten, mit Sauerstoffmangel und mit dem erhöhten Kohlendioxidgehalt in seinem Blut.

Doch damit nicht genug: Möglicherweise stammen die gemessenen Gamma-Wellen zumindest teilweise gar nicht aus dem Gehirn: Die Ergebnisse könnten durch fälschlich mitgemessene Wellen aus Muskel-Kontraktionen beeinflusst worden sein.

Vor allem aber zeigt sich bei näherem Zusehen: Der von den Medien behauptete Anstieg an Gamma-Wellen nach dem Herzstillstand wurde von den Wissenschaftlern gar nicht gemessen. Was sie feststellten, war nicht etwa eine Steigerung, sondern im Gegenteil eine Reduktion der Gamma-Wellen. Erhöht war lediglich der relative Anteil der Gamma-Wellen im Vergleich mit den Alpha-, Beta- und Delta-Wellen. Und das auch nur deshalb, weil letztere schneller reduziert wurden als die ebenfalls zurückgehenden Gamma-Wellen.

Viel Lärm um nichts also? Jedenfalls waren die Autoren der Studie gut beraten, bei der Deutung ihrer Daten Zurückhaltung walten zu lassen. Und das umso mehr, als sie den bisherigen Forschungsstand offensichtlich nur ungenügend kannten: In ihrer Studie schreiben sie, dass es eine systematische Forschung zur Hirnaktivität während des Sterbeprozesses nie gegeben habe. Dagegen stellen Greyson, van Lommel und Fenwick fest: Klinische Erfahrung und Forschung zum Sterbeprozess gibt es seit Jahrzehnten.

Und diese jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, dass die Hirnaktivität normalerweise in den acht Sekunden nach einem Herzstillstand zurückgeht bis hin zum Nulllinien-EEG nach etwa 18 Sekunden. Ähnliche Ergebnisse wurden von Fällen berichtet, in denen die Hirnaktivität während eines Herzstillstands gemessen wurde, beispielsweise während einer Operation. Bei einem Nulllinien-EEG haben wir aber auch keine Gamma-Aktivität. Und Berichte von Nahtoderfahrungen, die während eines Nulllinien-EEG stattgefunden haben, gibt es sehr wohl. Der wohl bestdokumentierte Fall ist der von Pam Reynolds.

Offensichtlich gibt es also doch Nahtoderfahrungen, die zu einem Zeitpunkt geschehen, zu dem keine Hirnaktivität messbar ist. Jedenfalls keine der Hirnaktivitäten, die nach heutigem Forschungsstand Voraussetzung sind für Erlebnisse von hoher Kohärenz und Komplexität – also auch für Nahtoderfahrungen. In anderen Worten: Wir stehen vor einem Rätsel. Daran hat sich durch die estnische Studie nichts geändert.


Netter Versuch. Wann kommt der nächste?

Joachim Nicolay hat bereits 2016 festgestellt: Die Nachricht, dass das Rätsel der Nahtoderfahrungen nun gelöst sei, erscheint in Medien wie dem Spiegel seit Jahrzehnten immer wieder. Jedesmal soll eine andere physiologische Erklärung beweisen, dass es sich nur um Halluzinationen handelt. Gäbe es aber die eine, wissenschaftlich gesicherte Erklärung für Nahtoderfahrungen tatsächlich: Dann müsste man nicht immer wieder eine neue Erklärung nachliefern.

So einfach lässt sich also die Auseinandersetzung um die Deutung von Nahtoderfahrungen nicht beenden. Vielleicht die nächste Runde hat der Neurologe Jens Dreier in einem Interview mit „Spektrum der Wissenschaft“ eingeläutet. Er sagt, dass zwar 30 bis 40 Sekunden nach dem Herzstillstand die gesamte Hirnaktivität erloschen sei. Aber Minuten später komme es zu einer riesigen Welle von Entladungen der Nervenzellen, vergleichbar einem Kurzschluss. In dieser Notsituation setze der Körper Drogenstoffe frei, und auf diese würden die Nahtoderfahrungen möglicherweise zurückgehen.

Auch Dreier selbst bezeichnet diese Schlussfolgerung als Spekulation. Welche physiologischen Fakten auch immer die Forschenden noch zutage bringen mögen, immer wird die Frage sein: Was erklären diese Fakten, was nicht? Und immer wieder wird die persönliche Antwort davon abhängen, was man für möglich hält. Das aber ist mehr eine Frage der Weltanschauung als eine der Fakten.


Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Unsere Weltanschauung verengt oder weitet unseren Horizont. Sie ist ausschlaggebend dafür, welche Phänomene wir für relevant halten oder auch nur zur Kenntnis nehmen, welche nicht.

Materialisten haben starke Motive, Nahtoderfahrungen als irrelevant zu betrachten. Denn Nahtoderfahrungen gehen einher mit Phänomenen, die die heutige Naturwissenschaft nicht erklären kann: außerkörperliche Erfahrungen, die sich nachträglich als korrekt herausstellen; Gedankenübertragung; Begegnungen mit Verstorbenen, von deren Ableben zuvor nichts bekannt war. Ja, in Todesnähe können Sterbende und ihre Angehörigen sogar dieselbe Nahtoderfahrung teilen – ein neurobiologisch unerklärlicher Vorgang (R. Moody u. a., Glimpses of Eternity, deutsch „Zusammen im Licht“).

Neurobiologische Mechanismen können Nahtoderfahrungen auslösen. Aber ihren kompletten Ablauf naturwissenschaftlich zu erklären, mitsamt den paranormalen Begleiterscheinungen – das hat noch niemand geschafft.

Sollte also demnächst in den Medien wieder einmal die ultimative naturwissenschaftliche Erklärung für Nahtoderfahrungen präsentiert werden: Dann können Sie getrost davon ausgehen, dass diese Berichte mehr über die weltanschaulichen Vorurteile und den Zeitdruck der Journalisten sagen als über die Nahtoderfahrungen selbst.


Quellen

BR24, 21. März 2022, „Ärzte finden Erklärung für Nahtoderfahrungen“: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/aerzte-finden-erklaerung-fuer-nahtoderfahrungen,T0idJC2

Studie „Enhanced Interplay of Neuronal Coherence and Coupling in the Dying Human brain“ (2022): https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8902637/

Der Newsletter des Netzwerks Nahtoderfahrung (Ausgabe April 2022) ist für Mitglieder des Netzwerks erhältlich unter https://netzwerk-nahtoderfahrung.org/.

Kommentar der Nahtod-Forscher Bruce Greyson, Pim van Lommel und Peter Fenwick zu der genannten Studie: https://www.iands.org/1661-commentary-on-report-of-eeg-in-a-dying-human-brain.html

Interview mit dem Neurologen Jens Dreyer in Spektrum der Wissenschaft zu den physiologischen Grundlagen von Nahtoderfahrungen (aus physikalistischer Sicht): https://www.spektrum.de/news/tod-was-beim-sterben-im-gehirn-passiert/2043556?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE


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