Mittwoch, 2. November 2022

Joyce Brown: Weisheit, die Leben rettet

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2005 erhielt Dr. Joyce Brown über ihre Suizid-Hotline einen Anruf von einer Frau in heller Aufregung: Ihr Bruder John sei kurz davor, sich zu erschießen. Er habe sich eben telefonisch von ihr verabschiedet.

Wenige Augenblicke später rief Joyce Brown ihren Bruder an. Was sie ihm auf den Anrufbeantworter sprach, ließ ihn die Pistole aus der Hand legen. Am nächsten Tag war er in die Lektüre ihrer Lebensgeschichte vertieft.

Was, wenn das Leben unerträglich wird?
Joyce Brown (*1933) wuchs auf im US-Bundesstaat Idaho in einer Zeit großer wirtschaftlicher Not. Ihre alleinerziehende Mutter konnte sich und ihre Tochter nur mit Mühe als Raumpflegerin über Wasser halten. In der Schule wurde Joyce wegen ihrer ärmlichen Kleidung ausgegrenzt, von einer Lehrerin wurde sie so schwer geschlagen, dass sie einen Teil ihres Gehörs verlor.

Mit 18 heiratete sie einen Taxifahrer, den sie zweieinhalb Wochen zuvor kennengelernt hatte. Bald hatten sie drei Kinder, aber eine harmonische Familie waren sie nicht: Die Ehe war unglücklich, nach acht Jahren ließen sie sich scheiden.

Mit 27 Jahren erlitt die junge Mutter einen schweren Autounfall, kurze Zeit später einen zweiten. Während der folgenden Jahre musste sie deshalb acht größere Rücken-OPs über sich ergehen lassen. Fast ständig litt sie unter enormen Schmerzen. Als sie 39 Jahre alt war, eröffneten ihr die Ärzte, dass sie ihre Schmerzen nie wieder los werde. Sie werde den Rest ihres Lebens gelähmt sein und nur noch Arme und Hände bewegen können. Glücklicherweise bewahrheitete sich diese Diagnose nicht. Aber als sie gerade mühsam wieder gehen gelernt hatte, verlor sie durch ein Antibiotikum ihren Gleichgewichtssinn.

Auch im Beruf musste sie schwere Rückschläge einstecken: Eine Model-Karriere brach sie ab, weil sie wiederholt sexuell belästigt wurde. Als Immobilienmaklerin war sie zunächst so erfolgreich, dass ihr Chef bald nur noch Frauen einstellen wollte. Wegen der zahlreichen Geschäftsreisen musste sie aber auch diese Laufbahn beenden. So wurde sie Beraterin mit einer Geschäftsidee zur Gewinnung von elektrischer Energie aus Abfall. Den ersten Kunden hatte sie bereits unter Vertrag, weitere Kommunen zeigten Interesse, als sie durch juristische Tricks um ihre Anteile an dem lukrativen Geschäft gebracht wurde.

Bei alldem begleitete Joyce der Gedanke, dass ihr ein Ausweg immer offen stünde: sich das Leben zu nehmen. Und das, seit sie acht Jahre alt war. Damals hörte sie auf einer Beerdigung die Leute sagen, dass die verstorbene Person nun „in Frieden“ sei. Um im Himmel glücklich zu sein, musste man also nur sterben. Wenn es so einfach war, wozu sich dann noch in dieser Welt abquälen? Verstärkt wurde diese Haltung durch ihren Vater, der ihr von seiner paradiesischen Nahtoderfahrung vorschwärmte, als sie 17 war, und der sich 1980 das Leben nahm.

Wie weit reicht die Macht des positiven Denkens? 
Neben ihrem Hang zum Suizid entwickelte Joyce aber mit 25 Jahren auch einen positiven, lebensbejahenden Ansatz: Sie entdeckte, dass sie ihre negativen Gedanken durch machtvolle positive Bestärkungen überwinden konnte. Diese positive Reprogrammierung ihres Bewusstseins praktizierte sie von da an sehr konsequent, auch im Schlaf. Sie gewann dadurch erheblich an Selbstbewusstsein.

Aber die Rückschläge rissen nicht ab. Im Dezember 1981 stürzte sie schwer; wenig später stürzte sie erneut; eine Krankheit löste die andere ab; sie vertrug ihre Antibiotika nicht mehr, hatte Schmerzen am ganzen Leib, litt unter Muskelschwäche und Schluckbeschwerden. Damals wusste sie noch nicht, dass eine beginnende ALS-Erkrankung die Ursache war. Nachdem sie den Schutz ihrer Krankenversicherung verloren hatte, konnte sie sich nicht einmal mehr die erforderlichen Untersuchungen leisten – zumal auch noch an ihrem Haus kostspielige Reparaturen nötig wurden.

All das war dann offenbar doch zu viel für Joyce. Zweimal versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Dann, im Januar 1983, eröffnete ihr ein Arzt, dass sie in kurzer Zeit eines natürlichen Todes sterben werde. Für eine 49-jährige Frau eigentlich eine vernichtende Diagnose. Doch Joyce freute sich darüber wie über ein Geschenk des Himmels: Sie würde bald sterben dürfen, ohne noch einmal selbst Hand an sich legen zu müssen.

Wenig später schien es so weit zu sein: Joyce brach in ihrem Badezimmer zusammen.

Nahtoderfahrung 
Sie fand sich außerhalb ihres Körpers wieder. Ihre Schmerzen waren verschwunden, ihre Wahrnehmung klarer als je zuvor. Wände waren keine Hindernisse mehr für sie.

Gott war ihr nahe. Sie erfuhr, dass er uns alle bedingungslos liebt und voller Barmherzigkeit und Gnade für uns ist. Nie gekanntes Wissen stand ihr offen.

Mit einem Mal verstand sie, wie dumm und unnötig die meisten Streitigkeiten sind, die wir in diesem Leben ausfechten. Streitende Paare wurden ihr gezeigt, die einander mit achtlosen Worten verletzen und sich entzweien, obwohl sie einander lieben.

Auf ihr Leben zurückblickend, war sie glücklich über die Momente, in denen es ihr gelungen war, ihre Zunge zu hüten, statt einen absurden Streit eskalieren zu lassen. Dagegen tat ihr nun jedes harte Wort leid, das sie jemals zu anderen gesprochen hatte.

Über Meinungen zu streiten, erschien ihr nun sinnlos. Unsere Meinungen entsprechen dem Grad der seelischen Entwicklung, auf dem wir uns befinden. Statt einander deswegen anzugreifen, sollten wir einander zuhören in einer Atmosphäre von Liebe und Verständnis. Recht zu behalten ist nicht erstrebenswert, wenn dadurch die Partnerin oder der Partner gedemütigt wird.

Das Leben ist zu kurz, um Groll gegen andere zu hegen. Stattdessen tun wir gut daran, großzügig zu vergeben. Damit sollten wir nicht warten, bis der andere bereut. Wie traurig, wenn er oder sie stirbt, bevor wir uns versöhnt haben. Oder wenn wir unversöhnt sterben und unseren Groll mit in die andere Welt nehmen.

Statt auf die Reue der anderen zu warten, sollten wir bereuen, was wir selbst ihnen angetan haben. Damit tun wir uns selbst den größten Gefallen. Denn in der anderen Welt wirkt unsere Reue wie ein Radierer: Alle schlechten Taten, die Joyce in ihrem Leben aufrichtig bereut hatte, tauchten in ihrem Lebensrückblick nicht mehr auf.

Warten wir mit der Versöhnung nicht, bis uns Gerechtigkeit widerfahren ist. Die Gerechtigkeit können wir getrost Gott überlassen. Er wird jeden Menschen früh genug mit seinem Unrecht konfrontieren. Jeden Menschen – auch uns selbst: Wie wir richten, so werden wir gerichtet werden. Wer einst bei Gott Vergebung erfahren möchte, muss selbst vergeben.

Wir unterschätzen leicht, wie wertvoll die kleinen Freundlichkeiten sind, die wir einander erweisen. Nicht nur unseren Mitmenschen, sondern allen Kreaturen. Selbst die kleinste Aufmerksamkeit schlägt Wellen, wie ein Stein, den wir ins Wasser werfen, und berührt so viele Leben.

Unsere materiellen Güter können wir nicht mitnehmen in die andere Welt. Was wir dagegen mitnehmen: Wie geduldig und liebevoll wir mit anderen umgegangen sind, wie hilfsbereit wir gewesen sind.

Welcher Religion ein Mensch angehört, ist nicht entscheidend. Gott, erfuhr Joyce, schätzt die Menschen aller Religionen, die an sich arbeiten, um besser zu werden. Akzeptieren wir einander in dem Entwicklungsstadium, in dem wir uns befinden.

Zu gern hätten wir ein Leben ohne Probleme und Schicksalsschläge. Aber das wäre nicht gut für uns. Denn die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert werden, sind unser spirituelles Trainingsprogramm. Mit jeder Herausforderung, die wir annehmen, stärken wir unsere spirituellen Muskeln.

Ohne Not verschlimmern sollten wir unsere Probleme aber auch nicht. Doch genau das tun wir, wenn wir vor ihnen davonlaufen. Statt uns in Drogen und Alkohol zu flüchten, sollten wir annehmen, womit das Leben uns konfrontiert. Angenommenes Leid stärkt unsere Fähigkeit, mit anderen zu fühlen und ihnen zu helfen.

Allzu schnell sind wir unzufrieden mit unserem Körper, halten ihn für zu dick, zu alt oder zu krank. Dagegen lernte Joyce während ihrer Nahtoderfahrung schätzen, wie nützlich unser Körper ist, welche Beschwerden auch immer er haben mag: Ohne ihn könnten wir unsere Bestimmung auf dieser Erde nicht erfüllen.

Wir machen unser Selbstwertgefühl davon abhängig, wie wir aussehen, was andere über uns denken oder was wir auf dem Konto haben. Dabei ist all das für Gott nicht wichtig. Er liebt uns, wie wir sind. Wir sind seine Kinder: Das ist, was zählt. Darauf sollten wir unser Selbstbewusstsein gründen. Wenn wir das tun, werfen wir die Ketten ab, die wir uns selbst angelegt haben.

Unser Geist ist machtvoller, als wir denken. Nur wenn wir ihn ständig mit guten Anregungen versorgen, wird er für uns arbeiten. Entmutigende Gedanken sollten wir daher meiden.

Wir neigen dazu, unsere Lernfähigkeit zu unterschätzen. Wenn wir auf einem falschen Weg sind, können wir das einsehen und die Richtung unseres Lebens ändern. Das wird uns rückblickend im anderen Leben mit großer Freude erfüllen.

Wir werden nur an unseren tatsächlichen Möglichkeiten gemessen 
Aber wie frei sind wir tatsächlich? Sind uns durch unsere Lebensumstände nicht Grenzen gesetzt?

Ja, gewiss. Aber darauf sollten wir unsere Aufmerksamkeit nicht richten. Denn eines Tages werden wir nicht gefragt: „Was hast du aus den Möglichkeiten gemacht, die du nicht hattest?“, sondern: „Was hast du aus dem gemacht, was du hattest?“

Wir stehen nicht in einem unfairen Wettbewerb mit Menschen, die günstigere Startbedingungen hatten als wir. Denn nicht an ihnen werden wir eines Tages gemessen. Im Wettbewerb stehen wir einzig und allein mit uns selbst. Daher ergibt es keinen Sinn, andere Menschen oder ungünstige Umstände für unsere eigenen Fehler verantwortlich zu machen. Aus dem, was wir haben, das Beste zu machen – das steht uns immer frei.

Deshalb hat niemand die Macht, uns zu besiegen. Niemand kann uns nehmen, was zählt: immer wieder gegen alle Widrigkeiten weiterzumachen, nach Lösungen zu suchen, ein Leben in Einklang mit den ewigen Wahrheiten anzustreben, uns zu mühen und durchzuhalten, so lange wir leben.

Suizid ist nicht der Weg zum Frieden 
Das Beste machen aus jeder Situation: Das können wir nicht, wenn wir unser Leben wegwerfen. Deshalb warnt Joyce: Die Hoffnung, durch Suizid Frieden zu finden, trügt. Während ihrer Nahtoderfahrung sah sie Suizidanten, die entsetzt waren über das Leid, das sie bei ihren Hinterbliebenen angerichtet hatten. Sie wollten ihre Lieben um Vergebung bitten, aber ihre Lieben konnten sie weder sehen noch hören.

Suizid ist nicht der Weg zum Frieden, ist Joyce seit ihrer Nahtoderfahrung überzeugt. Wenn wir einst unseren Tod als einen Übergang in unsere wahre Heimat erleben wollen, dann müssen wir uns vorher den Herausforderungen dieses Lebens stellen, wie sie kommen. Erlösend ist nur der Tod, den wir nicht mutwillig selbst herbeigeführt haben. Nicht einmal Nahtoderfahrene können zu dem friedvollen Ort zurückkehren, an dem sie so glücklich waren, indem sie sich das Leben nehmen: Wie wir alle, so müssen auch sie erst auf sich nehmen, was immer ihnen widerfährt, bis an ihr Lebensende.

Schmerz über versäumte Gelegenheiten 
Doch für Joyce war es nun so weit: Ihr irdisches Leben war zuende. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, wie viele Möglichkeiten, Gutes zu tun, sie ungenutzt hatte verstreichen lassen. Wie gerne wäre sie in ihren physischen Körper zurückgekehrt, um ihrer Familie zu sagen, wie sehr sie sie liebe. Nun war es zu spät. Nie mehr würde sie die Gelegenheiten ergreifen können, spirituell zu wachsen, die nur dieses irdische Leben bereithält. Alles, was sie nicht gesagt hatte, würde für immer ungesagt bleiben.

Aber dann bekam sie doch noch ihre zweite Chance.

Nach der Nahtoderfahrung 
So unvermittelt wie Joyce ihren Körper verlassen hatte, fand sie sich in ihm wieder. Trotz der zurückgekehrten Schmerzen überglücklich, wollte sie ab sofort jede Herausforderung annehmen, um daran zu wachsen.

Und die Herausforderungen ließen nicht auf sich warten: Zwar machte Joyce zunächst gesundheitliche Fortschritte, die die Ärzte nicht für möglich gehalten hatten. Aber 1988, im Alter von 54 Jahren, erhielt sie eine Diagnose, die als Todesurteil gilt: Sie hatte die unheilbare Nervenkrankheit ALS. Die Ärzte gaben ihr nur noch einige Monate.

Doch Joyce schaffte das Unmögliche: Noch im selben Jahr, so versichert sie, überwand sie die Krankheit vollständig. Bekämpft hatte sie ALS durch ganzheitliche Ernährung und Medizin, durch Gebet sowie durch den Glauben, geheilt werden zu können, unterstützt durch Meditation und positive Bestärkungen im Wachen und Schlafen.

Juristische Auseinandersetzungen mit ihren früheren Geschäftspartnern zehrten jahrelang an ihren Kräften. Erst 1992 kam es zu einem wenig vorteilhaften Vergleich. Danach konzentrierte sich Joyce ganz darauf, Menschen in ihren spirituellen, mentalen und gesundheitlichen Anliegen zu helfen. Als Naturopathic Medical Doctor (N.M.D.) arbeitete sie mit namhaften medizinischen Experten zusammen und engagierte sich in einer Gruppe zur Heilung von ALS.

1998 starb ihr zweiter Mann Earl, 14 Jahre nachdem ihm die Ärzte eine Lebenserwartung von wenigen Wochen diagnostiziert hatten. 1999 gründete sie die Non-Profit-Organisation Stress and Grief Relief, Inc., die sich unter anderem der Bekämpfung von Suizid und seinen Ursachen widmet.

Durch dieses Engagement hat Joyce Brown viele Suizide verhindert. Doch zu ihrem großen Schmerz gelang es ihr nicht, ihre Halbschwester von diesem Schritt abzuhalten: Ende Juni 2003 nahm Shirley sich das Leben. Joyce quälte sich mit Schuldvorwürfen, bis ihr Shirley eines Tages erschien und sie ermutigte, Trauer und Schuldgefühle hinter sich zu lassen.

Joyce Browns Warnung vor dem Suizid ist also keineswegs so zu verstehen, dass die Hinterbliebenen einer Suizidantin verzweifeln müssten. Gott liebt auch die Menschen bedingungslos, die sich das Leben genommen haben. Er versteht, wie sie dazu gekommen sind. Joyce ist zuversichtlich, dass auch sie irgendwann Vergebung und Frieden erfahren werden. Von ewiger Verdammnis ist bei ihr nirgends die Rede.

Die Schicksalsschläge rissen in ihrem Leben nicht ab: 2003 erlitt sie erneut einen Verkehrsunfall mit schweren gesundheitlichen Folgen. 2006 brannte ihr Haus nieder, kurz nachdem sie ein drittes Mal geheiratet hatte. Ihr Mann litt unter einer Nierenerkrankung, die sich bald so verschlimmerte, dass die Ärzte seine Lebenserwartung nur noch auf zwei Monate schätzten. Doch erneut gelang Joyce ein Wunder: Er überlebte seine Diagnose um zehn Jahre. Und als Joyce im November 2011 unheilbar erblindete, gewann sie bereits im folgenden Jahr ihr Augenlicht zurück.

„Wir können nichts mehr für Sie tun“ – einen solchen ärztlichen Befund hinzunehmen, ist Joyce Browns Sache nicht. 2022, mit 89 Jahren, ist sie weiter aktiv. Trotz ihrer starken Rückenschmerzen teilt sie weiter ihre Erfahrungen und Einsichten, lehrt Techniken zur Überwindung von Depression, Ärger und Stress und rettet Leben in der Suizid-Prävention.

Und was wurde aus John, der 2005 im Begriff gewesen war, sich zu erschießen? Er hat danach Psychologie studiert und arbeitet heute selbst in der Suizid-Prävention.

Was hatte ihn damals davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen? Es waren die Worte von Joyce auf seinem Anrufbeantworter: „Möchten Sie nicht wissen, wohin Sie gehen, bevor Sie den Abzug Ihrer Pistole drücken? Was, wenn es Ihnen nach Ihrem Tod schlechter geht als jetzt?“ Sie wisse aus persönlicher Erfahrung, so Joyce damals weiter, dass es auf der anderen Seite nicht immer schön sei. Dass es dort einen Unterschied mache, was man zuvor hier auf der Erde getan habe.

Liebe Leserin, lieber Leser, ob Sie nun an ein Leben nach dem Tod glauben oder nicht – auf eines können wir uns vielleicht einigen: Dieses Leben ist eine Gelegenheit, die schnell vorbei ist und die nie wiederkehrt. Wir sollten sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sterben werden wir noch früh genug.

Quellen


Samstag, 17. September 2022

Nahtoderfahrungen: Warum die gängigen physiologischen Erklärungen nicht ausreichen

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In Todesnähe machen viele Menschen die intensivste Erfahrung ihres Lebens: eine Nahtoderfahrung. Sie verlassen – so berichten sie später – ihren Körper, beobachten die Wiederbelebungsmaßnahmen von oben, gelangen in eine andere Welt, begegnen dort verstorbenen Angehörigen und einem Lichtwesen, das sie bedingungslos liebt, durchleben ihr Leben noch einmal aus der Perspektive der Menschen, mit denen sie gut oder schlecht umgegangen sind, und kehren schließlich zurück in ihren Körper, weil ihre Aufgabe in diesem Leben noch nicht erfüllt ist. Danach sind sie unerschütterlich davon überzeugt, dass ihr Leben einen Sinn hat und dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Ihre Werte wandeln sich: Sie sind nun nicht mehr wettbewerbs- und erfolgsorientiert, sondern legen Wert darauf, im Hier und Jetzt voll präsent zu sein und den Menschen, mit denen sie gerade zu tun bekommen, liebevoll zu begegnen.

Ist diese Erfahrung eine Sinnestäuschung des sterbenden Gehirns? Dann müsste sie eigentlich physiologisch vollständig erklärbar sein, sei es jetzt oder in Zukunft. Oder geschieht sie tatsächlich am Übergang in die jenseitige Welt, die uns nach unserem Tod erwartet und von der her unser diesseitiges Leben seinen Sinn erhält? Dann müsste jede physiologische Erklärung an eine Grenze stoßen, die unüberwindbar bleibt.

Wenn es einen Experten für diese Fragen gibt, dann ist es Bruce Greyson. Der Psychiater und Neurowissenschaftler ist Naturwissenschaftler durch und durch. Lange war er wie wohl die meisten seiner Kollegen überzeugt: Alles, was ist, besteht aus Physik; Gott existiert nicht; Geist gibt es nur als erdgeschichtlich spätes Nebenprodukt komplexer Materie; wenn das Gehirn stirbt, stirbt auch das Bewusstsein. Dieses physikalistische Weltbild gab er erst auf, als er eine persönliche Erfahrung machte, die damit unvereinbar ist. Seitdem erforscht er mit der Sorgfalt und Expertise eines Naturwissenschaftlers das Phänomen Nahtoderfahrung.

Was hat er herausgefunden? Darüber berichtet er unter anderem in seinem jüngsten Buch („After“, zu Deutsch „Nahtod“). Im Folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf sein Kapitel über Nahtoderfahrungen aus dem Sammelband „Consciousness Unbound“ von Edward Kelly u. a. (2021).

Die physiologischen Erklärungsversuche und ihre Grenzen
Wie sich Greyson mit allen gängigen physiologischen Erklärungsversuchen auseinandersetzt: Davon kann ich hier nur eine knappe Zusammenfassung bieten. Wenn Sie es genauer wissen möchten, lesen Sie bitte Bruce Greyson selbst. Bei ihm finden Sie auch die entsprechenden Literaturbelege und Hinweise auf weiterführende Literatur.

Sind Nahtoderfahrungen verursacht durch ...

  • … Sauerstoffmangel?
    Dagegen spricht:
    Nahtoderfahrungen ereignen sich auch bei erhöhtem oder normalem Sauerstoffgehalt im Blut.

  • … einen erhöhten CO2-Gehalt im Blut?
    Dagegen spricht:
    Zu Nahtoderfahrungen kommt es auch bei niedrigem und normalem CO2-Gehalt.

  • … Fehlfunktionen des Gehirns?
    Dagegen spricht:
    Fehlfunktionen des Gehirns beeinträchtigen die Denkfähigkeit und führen zu wirren Halluzinationen. Dagegen berichten Nahtoderfahrene von gedanklicher Klarheit. Ihre Wahrnehmungen sind nicht wirr, sondern haben einen sinnvollen inneren Zusammenhang.

  • … Medikamente?
    Dagegen spricht:
    Zu Nahtoderfahrungen kommt es auch ohne Medikamente. Ja, Patientinnen und Patienten, die Medikamente erhalten, berichten sogar seltener von Nahtoderfahrungen als solche, die keine erhalten.

  • … Drogen?
    Dagegen spricht:
    Zwar erzeugen manche Drogen Erfahrungen, die man als spirituell bezeichnen kann. Aber diese unterscheiden sich erheblich von Nahtoderfahrungen. Das gilt auch für den Ketamin-Rausch, dem eigentlich die größte Ähnlichkeit mit Nahtoderfahrungen nachgesagt wird. Während Nahtoderfahrungen meist beglückend sind, überwiegen bei Ketamin die erschreckenden Erlebnisse.
    Vor allem aber ereignen sich die meisten Nahtoderfahrungen nicht unter Drogeneinfluss.

  • … REM-Aktivität im Gehirn, wie sie für Traum-Zustände typisch ist?
    Als REM wird die Schlaf-Phase bezeichnet, in der die meisten Träume stattfinden.
    Psychiater spekulieren, dass eine solche REM-Aktivität vom sterbenden Gehirn hervorgerufen werden könnte, um die Angst vor dem Tod zu nehmen. Dabei denken sie insbesondere an Wahrnehmungen aus der so genannten „REM-Intrusion“ wie ein außergewöhnliches Licht oder das Gefühl, tot zu sein.
    Dagegen spricht:
    Nach einer REM-Erfahrung ist uns klar, dass wir geträumt haben. Dagegen sind Nahtoderfahrene unerschütterlich davon überzeugt, dass ihr Erlebnis real war.
    Vor allem aber: 
    Nahtoderfahrungen treten häufig unter Bedingungen auf, die eine REM-Aktivität unmöglich machen, beispielsweise in Vollnarkose.

  • ... verborgene Hirnaktivität, die da ist, ohne vom Elektroenzephalogramm (EEG) erfasst zu werden?
    Dagegen spricht:
    Es mag sein, dass es während einer Nahtoderfahrung zu 
    irgendwelchen Hirnaktivitäten kommt, die nicht messbar sind. Aber die entscheidende Frage ist eine andere: Kommt es während der Nahtoderfahrung zu denjenigen Hirnaktivitäten, die Neurowissenschaftler als notwendige Voraussetzung für bewusste Erfahrungen ansehen? Diese Hirnaktivitäten sind sehr wohl messbar. Und es gibt Nahtoderfahrungen, die zu einem Zeitpunkt stattgefunden haben, an dem gemessen wurde, dass diese Hirnaktivitäten nicht vorhanden waren.

  • … einen Anstieg der elektrischen Aktivität im Gehirn zum Zeitpunkt des Todes?
    Dagegen spricht:
    Dieser Anstieg ist mit dem Standard-EEG nicht messbar. Deshalb wurde er bisher nur mit der Bispektralindex-Methode festgestellt. Diese ist jedoch sehr störungsanfällig. Verschiedene Signale im Körper, aber auch aus der Umgebung können leicht als Hirnaktivität fehlgedeutet werden.
    Hinzu kommt: Wo dieser Anstieg gemessen wurde, konnte noch nie ein Zusammenhang mit Nahtoderfahrungen festgestellt werden.

Verbleibt im sterbenden Gehirn genügend elektrische Aktivität, um eine lebendige und komplexe Erfahrung zu produzieren? In den Gehirnen sterbender Ratten wurde 30 Sekunden nach dem Herzstillstand elektrische Aktivität gemessen. Diese war jedoch äußerst gering. Sie betrug nur einen Bruchteil der elektrischen Aktivität davor. Dieser schwachen Aktivität die Produktion von Nahtoderfahrungen zuzutrauen, widerspräche Jahrzehnten klinischer Erfahrung und Forschung.

Vor allem aber: Der Anstieg elektrischer Aktivität nach Herzstillstand in den Gehirnen von Ratten lässt sich durch Anästhesie vollständig eliminieren. Nahtoderfahrungen ereignen sich jedoch auch unter Anästhesie.

Lassen sich Nahtoderfahrungen einer Hirnregion zuordnen?
Ausführlich geht Greyson auch auf die Versuche ein, durch Stimulation bestimmter Hirnregionen herauszufinden, in welcher Region Nahtoderfahrungen angesiedelt sind. Als Hauptkandidat gilt hier der rechte Schläfenlappen. Tatsächlich wurden jedoch Außerkörperlichkeitserfahrungen nach Hirnoperationen berichtet, die die unterschiedlichsten Hirnregionen betrafen.

Wahrnehmungen, die durch die Stimulation von Hirnregionen künstlich hervorgerufen werden, unterscheiden sich von Nahtoderfahrungen erheblich:

  • Nahtoderfahrene teilen immer wieder aus ihren Außerkörperlichkeitserfahrungen korrekte Beobachtungen mit, die zur Voraussetzung haben, dass sie tatsächlich ihren Körper verlassen haben. Das ist bei künstlich hervorgerufenen Außerkörperlichkeitserfahrungen nicht der Fall.

  • Die Lebensrückblicke in Nahtoderfahrungen sind konsistent, präzise, unvergesslich, sinnstiftend und lebensverändernd. Dagegen sind künstlich hervorgerufene Erinnerungen flüchtig und traumartig und bewirken keine Änderung in der Lebenseinstellung.

Gegen die Zuordnung von Nahtoderfahrungen zu einer bestimmten Hirnregion spricht auch, dass Erinnerungen an Nahtoderfahrungen zu Aktivitäten in mehreren Hirnregionen führen.

Neuere Entwicklungen
Im März 2022 ging eine Nachricht durch die Presse, nach der estnische Neurochirurgen die naturwissenschaftliche Erklärung für Nahtoderfahrungen gefunden hätten. Was Greyson dazu zu sagen hat, habe ich in meinem Post vom 22. August 2022 zusammengefasst.

Leider habe ich von Greyson noch keine Stellungnahme zu den Versuchen gefunden, Nahtoderfahrungen durch Entladungswellen der Nervenzellen zu erklären. Zu diesen Wellen komme es einige Minuten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand, sagt der Neurologe Jens Dreier in Spektrum der Wissenschaft online (5.8.2022). Ihm zufolge breiten sie sich nach und nach im gesamten Hirn aus, dessen Aktivität eigentlich bereits 30 bis 40 Sekunden nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand erloschen ist. Könnten diese Entladungswellen die Ursache sein für die Lichterscheinungen in Nahtoderfahrungen? Dreier schließt das nicht aus, bringt jedoch noch eine andere Möglichkeit ins Spiel: körpereigene Drogen, die vielleicht in diesem Zusammenhang ausgeschüttet würden. Allerdings bezeichnet er diese Möglichkeiten selbst als „reine Spekulation“. Und weil die Entladungswellen erst Minuten nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand einsetzen, können sie kaum diejenigen Nahtoderfahrungen erklären, die vor diesem Zeitpunkt stattfinden.

Zwischenbilanz
Alle bisher vorgelegten physiologischen Erklärungen für Nahtoderfahrungen haben zur Voraussetzung, dass ein Teil der Realität von Nahtoderfahrungen ausgeblendet wird: Entweder man ignoriert diejenigen Nahtoderfahrungen, für die die vorgeschlagenen physiologischen Bedingungen nicht zutreffen. Oder man ignoriert Merkmale einer Nahtoderfahrung, die so nicht erklärt werden können.

Aber vielleicht braucht es ja gar nicht die eine Erklärung für alle Nahtoderfahrungen? Könnte man nicht stattdessen „Nahtoderfahrung“ auffassen als einen Sammelbegriff für verschiedene Phänomene mit unterschiedlichen physiologischen Ursachen?

Dagegen sprechen einige Merkmale, die die meisten Nahtoderfahrungen gemeinsam haben: Sie werden als real erfahren, meist sogar als realer als die Wirklichkeit, die uns sonst umgibt; sie sind äußerst komplex und konsistent; und sie vermitteln kulturübergreifend dieselben Werte: Worauf es im Leben ankommt, sind nicht Status und materieller Wohlstand. Vielmehr sind wir auf der Erde, um zu lieben und zu lernen.

Zeigen Nahtoderfahrungen, dass sich das Bewusstsein vom Körper lösen kann?
Einige Phänomene, die mit Nahtoderfahrungen einhergehen, gelten vielen als konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das Bewusstsein sich vom Körper lösen kann:

  • Gesteigerte geistige Aktivität zu einem Zeitpunkt, zu dem eine solche Aktivität nach dem aktuellen Stand der Hirnforschung nicht möglich ist.

  • Wahrnehmungen während der eigenen Operation von einer Perspektive außerhalb des eigenen Körpers aus, die nachträglich von dritter Seite überprüft und bestätigt werden.

  • Nachträglich bestätigte Wahrnehmungen mit Sinnesorganen zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Sinnesorgane ausgeschaltet sind (z. B. visuelle Wahrnehmungen trotz zugeklebter Augen während einer Operation).

  • Nachträglich bestätigte Beobachtungen an weit entfernten Orten, an denen sich die wahrnehmende Person zum Zeitpunkt ihrer Beobachtung körperlich nicht befand.

  • Visuelle Wahrnehmungen von Blinden, darunter von Menschen, die von Geburt an blind sind.

In dieselbe Richtung deutet auch das Phänomen der terminalen Geistesklarheit: Hochgradig demente Menschen zeigen manchmal kurz vor ihrem Tod eine geistige Klarheit, die angesichts ihrer irreversiblen Hirnschäden eigentlich nicht mehr möglich sein sollte.

Sind Nahtoderfahrungen Anlass zur Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod?
Wenn das Bewusstsein sich vom Körper lösen kann: Bedeutet das, dass wir Grund haben zu der Hoffnung, dass das Leben nach dem Tod weitergeht? Dafür sprechen die folgenden Gesichtspunkte:

  • Die Überzeugung fast aller Nahtoderfahrenen, dass sie – oder ein Teil von ihnen – nach dem Tod weiterleben werden.

  • Nahtoderfahrungen von Kindern: Diese berichten nie von Begegnungen mit ihren nächsten lebenden Bezugspersonen, sondern stets von Begegnungen mit bereits verstorbenen Menschen. Das spricht dagegen, dass es sich um Phantasien handelt.

  • Begegnungen mit kürzlich Verstorbenen, von deren Tod die Person vor ihrer Nahtoderfahrung nichts wusste. Darin, ob eine Person verstorben oder noch lebend sei, haben sich Nahtoderfahrene noch nie getäuscht.

  • Begegnungen mit nahestehenden Verstorbenen, von denen der oder die Nahtod-Erlebende zuvor nichts wusste, zum Beispiel mit dem verleugneten leiblichen Vater oder mit einem früh verstorbenen Geschwisterkind, das die Eltern verschwiegen hatten.

  • Nahtoderfahrene sind immer überzeugt, dass sie während ihrer Erfahrung realen Personen begegnet sind.


Fazit
Nahtoderfahrungen sind äußerst intensive, komplexe und konsistente Erlebnisse, die sich oft unter Bedingungen ereignen, unter denen sie nach den gegenwärtigen neurophysiologischen Modellen unmöglich sind. Manchmal gehen sie einher mit Phänomenen, die mit dem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild unvereinbar sind. Die Erlebenden selbst halten ihre Erfahrungen für real und sind danach unerschütterlich überzeugt, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.

Dieser Befund zwingt Sie zu nichts. Wie Sie damit umgehen, bleibt Ihnen überlassen. Zu welchem Schluss auch immer Sie kommen: Sie werden immer Expertinnen finden, die Ihnen recht geben, und Experten, die Ihnen widersprechen. Denn hier rühren wir an die letzten Fragen. Und zu denen können Expertinnen und Experten allenfalls Anhaltspunkte liefern. Ausschlaggebend ist etwas anderes: Ihre persönliche Urteilskraft. Dass Sie sich von keinen Experten gar zu sehr beeindrucken lassen, egal welcher Richtung sie angehören, sondern sich ein eigenes Urteil zutrauen: Das wünsche ich Ihnen.

Quellen

  • Über das Erlebnis, das Bruce Greysons ursprünglich materialistisches Weltbild erschüttert hat, berichtet er zu Beginn seines Buches „After“, zu Deutsch „Nahtod“ (Leseprobe kostenlos).

  • Consciousness Unbound

Montag, 22. August 2022

„Ärzte finden Erklärung für Nahtoderfahrungen.“ Wirklich?

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Ärzte finden Erklärung für Nahtoderfahrungen“: So titelte am 21. März 2022 der Newsletter von BR24. Ähnliche Schlagzeilen erschienen in vielen anderen Medien. Offensichtlich hatte man endlich die naturwissenschaftliche Erklärung für Nahtoderfahrungen gefunden: Kurz vor dem Tod komme es im Gehirn zu einem Anstieg von Gamma-Wellen, wie er typisch sei für lebhafte Träume und Erinnerungen.

Müssen wir also die Hoffnung begraben, dass Nahtoderfahrungen auf ein Leben nach dem Tod hindeuten könnten?


Die Studie

Anlass für die Berichte war eine Studie von Neurochirurgen der Universität Tartu in Estland. Sie hatten das Gehirn eines 87-jährigen Epileptikers an einen EEG-Monitor angeschlossen, als der einen Herzstillstand erlitt. Das Gerät blieb angeschlossen bis 30 Sekunden über seinen Tod hinaus. Es verzeichnete einen Anstieg von Gamma-Wellen kurz bevor das Herz aufhörte zu schlagen und kurz danach. Bereits zuvor hatte man eine ähnliche Verstärkung der Gamma-Wellen bei Ratten mit künstlich erzeugtem Herzstillstand gemessen.

Dann sind also die religiösen und spirituellen Erwartungen, die sich mit Nahtoderfahrungen verbinden, ohne Grundlage? Nahtoderfahrungen faszinieren ja nicht zuletzt deshalb, weil sie sich angeblich auch dann ereignen können, wenn keine Hirnaktivität mehr stattfindet. Wenn das stimmt, dann zeigen Nahtoderfahrungen, dass der Geist sich vom Körper lösen, möglicherweise sogar seinen Tod überleben kann. Aber Pustekuchen: Es stimmt eben nicht, beweist die aktuelle Studie.

Im Ernst? Haben die estnischen Forscher tatsächlich nachgewiesen, dass den Nahtoderfahrungen eine Hirnaktivität zugrunde liegt? Ist Bewusstsein also doch auch in Nahtoderfahrungen stets an Hirnaktivität gebunden?


Stimmen zur Studie aus dem Netzwerk Nahtoderfahrung

Das Netzwerk Nahtoderfahrung griff das Thema in seinem Newsletter vom April 2022 auf. Stellung bezogen darin der Netzwerk-Vorsitzende Joachim Nicolay, der Neurologe Wilfried Kuhn sowie der Journalist Werner Huemer (Thanatos TV), der zudem ausführlich den Sterbeforscher Reto Eberhard Rast zitierte. Sie gaben unter anderem Folgendes zu bedenken:

Der 87-jährige Epileptiker konnte von keiner Nahtoderfahrung berichten, weil er nach den Messungen verstarb. Wir haben von diesem Fall also nur die medizinischen Daten. Und die zeigen nicht einmal ein Nulllinien-EEG, wie man es bei Hirntod eigentlich erwarten müsste. Das liegt daran, dass der Tod während eines epileptischen Anfalls eintrat.

Was wurde gemessen? Das sterbende Hirn eines Epileptikers, der antiepileptische Medikamente erhalten hatte, während eines epileptischen Anfalls. Es ist deshalb anzunehmen, dass die gemessenen Gamma-Wellen mit der Epilepsie zusammenhängen. Denn epileptische Anfälle und antiepileptische Medikamente führen auch sonst zu erhöhten Gamma-Wellen. Dieser Gamma-Anstieg führt bei Epileptikern aber keineswegs zu bewussten Erfahrungen: Noch nie hat ein Patient nach einem epileptischen Anfall von einer Nahtoderfahrung oder einem Zustand klaren Bewusstseins berichtet. Vielmehr können sich Epileptiker nach ihrem Anfall an nichts mehr erinnern, weil sie – Gamma-Wellen hin oder her – bewusstlos waren.

Warum also sollten ausgerechnet in diesem Fall die Gamma-Wellen als Erklärung taugen für eine Nahtoderfahrung, von der wir nicht einmal wissen, ob der Patient sie überhaupt hatte?

Dass die Messungen an diesem einen Patienten Nahtoderfahrungen generell erklären könnten, ist auch aus einem anderen Grund unwahrscheinlich: Nahtoderfahrungen können auch unter physiologisch völlig anderen Voraussetzungen auftreten. Beispielsweise bei völlig gesunden Menschen in Todesangst, unter dem Einfluss von halluzinogenen Drogen oder bei einem Absturz in den Bergen in den Sekunden oder Sekundenbruchteilen vor der Verletzung. Wenn aber Nahtoderfahrungen unter physiologisch völlig unterschiedlichen Voraussetzungen auftreten: Wie sollen dann die spezifischen physiologischen Voraussetzungen eines 87-jährigen Epileptikers ohne bekannte Nahtoderfahrung die Nahtoderfahrungen erklären können?

Dass also ein Anstieg der Gamma-Wellen den Lebensrückblick hervorruft, von dem Nahtoderfahrene berichten, ist reine Spekulation. Darüber können auch Experimente mit zu Tode gequälten Ratten keinen Aufschluss geben. Denn Ratten können weder tot noch lebendig über Nahtoderfahrungen berichten.


Das sagen Bruce Greyson, Pim van Lommel und Peter Fenwick

Zu der Studie der estnischen Neurologen ist auf der IANDS-Website ein Kommentar erschienen, verfasst von den Nahtod-Forschern Bruce Greyson, Pim van Lommel und Peter Fenwick. Sie betonen: Was die Autoren der Studie beanspruchen, ist eine Sache – was die Medien daraus gemacht haben, eine andere.

Nehmen die Studienautoren für sich in Anspruch, dass sie das Geheimnis der Nahtoderfahrungen gelüftet hätten? Keineswegs: Dass die von ihnen gemessenen Gamma-Wellen als Erklärung für Nahtoderfahrungen dienen könnten, bezeichnen sie als Spekulation. Erst die Medien haben den Eindruck erweckt, dass es sich um die ultimative Erklärung von Nahtoderfahrungen handle. Und zwar gegen den Willen der Autoren. Denn die betonen ausdrücklich, dass man ihre Studie nicht verallgemeinern dürfe: Die Gamma-Wellen im Gehirn des 87-jährigen, schränken sie ein, könnten zusammenhängen mit seiner traumatischen Hirnverletzung, den verabreichten Medikamenten, mit Sauerstoffmangel und mit dem erhöhten Kohlendioxidgehalt in seinem Blut.

Doch damit nicht genug: Möglicherweise stammen die gemessenen Gamma-Wellen zumindest teilweise gar nicht aus dem Gehirn: Die Ergebnisse könnten durch fälschlich mitgemessene Wellen aus Muskel-Kontraktionen beeinflusst worden sein.

Vor allem aber zeigt sich bei näherem Zusehen: Der von den Medien behauptete Anstieg an Gamma-Wellen nach dem Herzstillstand wurde von den Wissenschaftlern gar nicht gemessen. Was sie feststellten, war nicht etwa eine Steigerung, sondern im Gegenteil eine Reduktion der Gamma-Wellen. Erhöht war lediglich der relative Anteil der Gamma-Wellen im Vergleich mit den Alpha-, Beta- und Delta-Wellen. Und das auch nur deshalb, weil letztere schneller reduziert wurden als die ebenfalls zurückgehenden Gamma-Wellen.

Viel Lärm um nichts also? Jedenfalls waren die Autoren der Studie gut beraten, bei der Deutung ihrer Daten Zurückhaltung walten zu lassen. Und das umso mehr, als sie den bisherigen Forschungsstand offensichtlich nur ungenügend kannten: In ihrer Studie schreiben sie, dass es eine systematische Forschung zur Hirnaktivität während des Sterbeprozesses nie gegeben habe. Dagegen stellen Greyson, van Lommel und Fenwick fest: Klinische Erfahrung und Forschung zum Sterbeprozess gibt es seit Jahrzehnten.

Und diese jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, dass die Hirnaktivität normalerweise in den acht Sekunden nach einem Herzstillstand zurückgeht bis hin zum Nulllinien-EEG nach etwa 18 Sekunden. Ähnliche Ergebnisse wurden von Fällen berichtet, in denen die Hirnaktivität während eines Herzstillstands gemessen wurde, beispielsweise während einer Operation. Bei einem Nulllinien-EEG haben wir aber auch keine Gamma-Aktivität. Und Berichte von Nahtoderfahrungen, die während eines Nulllinien-EEG stattgefunden haben, gibt es sehr wohl. Der wohl bestdokumentierte Fall ist der von Pam Reynolds.

Offensichtlich gibt es also doch Nahtoderfahrungen, die zu einem Zeitpunkt geschehen, zu dem keine Hirnaktivität messbar ist. Jedenfalls keine der Hirnaktivitäten, die nach heutigem Forschungsstand Voraussetzung sind für Erlebnisse von hoher Kohärenz und Komplexität – also auch für Nahtoderfahrungen. In anderen Worten: Wir stehen vor einem Rätsel. Daran hat sich durch die estnische Studie nichts geändert.


Netter Versuch. Wann kommt der nächste?

Joachim Nicolay hat bereits 2016 festgestellt: Die Nachricht, dass das Rätsel der Nahtoderfahrungen nun gelöst sei, erscheint in Medien wie dem Spiegel seit Jahrzehnten immer wieder. Jedesmal soll eine andere physiologische Erklärung beweisen, dass es sich nur um Halluzinationen handelt. Gäbe es aber die eine, wissenschaftlich gesicherte Erklärung für Nahtoderfahrungen tatsächlich: Dann müsste man nicht immer wieder eine neue Erklärung nachliefern.

So einfach lässt sich also die Auseinandersetzung um die Deutung von Nahtoderfahrungen nicht beenden. Vielleicht die nächste Runde hat der Neurologe Jens Dreier in einem Interview mit „Spektrum der Wissenschaft“ eingeläutet. Er sagt, dass zwar 30 bis 40 Sekunden nach dem Herzstillstand die gesamte Hirnaktivität erloschen sei. Aber Minuten später komme es zu einer riesigen Welle von Entladungen der Nervenzellen, vergleichbar einem Kurzschluss. In dieser Notsituation setze der Körper Drogenstoffe frei, und auf diese würden die Nahtoderfahrungen möglicherweise zurückgehen.

Auch Dreier selbst bezeichnet diese Schlussfolgerung als Spekulation. Welche physiologischen Fakten auch immer die Forschenden noch zutage bringen mögen, immer wird die Frage sein: Was erklären diese Fakten, was nicht? Und immer wieder wird die persönliche Antwort davon abhängen, was man für möglich hält. Das aber ist mehr eine Frage der Weltanschauung als eine der Fakten.


Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Unsere Weltanschauung verengt oder weitet unseren Horizont. Sie ist ausschlaggebend dafür, welche Phänomene wir für relevant halten oder auch nur zur Kenntnis nehmen, welche nicht.

Materialisten haben starke Motive, Nahtoderfahrungen als irrelevant zu betrachten. Denn Nahtoderfahrungen gehen einher mit Phänomenen, die die heutige Naturwissenschaft nicht erklären kann: außerkörperliche Erfahrungen, die sich nachträglich als korrekt herausstellen; Gedankenübertragung; Begegnungen mit Verstorbenen, von deren Ableben zuvor nichts bekannt war. Ja, in Todesnähe können Sterbende und ihre Angehörigen sogar dieselbe Nahtoderfahrung teilen – ein neurobiologisch unerklärlicher Vorgang (R. Moody u. a., Glimpses of Eternity, deutsch „Zusammen im Licht“).

Neurobiologische Mechanismen können Nahtoderfahrungen auslösen. Aber ihren kompletten Ablauf naturwissenschaftlich zu erklären, mitsamt den paranormalen Begleiterscheinungen – das hat noch niemand geschafft.

Sollte also demnächst in den Medien wieder einmal die ultimative naturwissenschaftliche Erklärung für Nahtoderfahrungen präsentiert werden: Dann können Sie getrost davon ausgehen, dass diese Berichte mehr über die weltanschaulichen Vorurteile und den Zeitdruck der Journalisten sagen als über die Nahtoderfahrungen selbst.


Quellen

BR24, 21. März 2022, „Ärzte finden Erklärung für Nahtoderfahrungen“: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/aerzte-finden-erklaerung-fuer-nahtoderfahrungen,T0idJC2

Studie „Enhanced Interplay of Neuronal Coherence and Coupling in the Dying Human brain“ (2022): https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8902637/

Der Newsletter des Netzwerks Nahtoderfahrung (Ausgabe April 2022) ist für Mitglieder des Netzwerks erhältlich unter https://netzwerk-nahtoderfahrung.org/.

Kommentar der Nahtod-Forscher Bruce Greyson, Pim van Lommel und Peter Fenwick zu der genannten Studie: https://www.iands.org/1661-commentary-on-report-of-eeg-in-a-dying-human-brain.html

Interview mit dem Neurologen Jens Dreyer in Spektrum der Wissenschaft zu den physiologischen Grundlagen von Nahtoderfahrungen (aus physikalistischer Sicht): https://www.spektrum.de/news/tod-was-beim-sterben-im-gehirn-passiert/2043556?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE


Montag, 8. August 2022

Was ist ein Beweis?

Gibt es Beweise für ein Leben nach dem Tod? Bevor wir darauf antworten, lasst uns erstmal klären: Was ist das eigentlich – ein Beweis?

Die Antwort hängt davon ab, wovon wir reden: In der Mathematik versteht man unter Beweis etwas anderes als in der Physik oder in einer Gerichtsverhandlung.

Beweise in der Mathematik …
Absolut zwingende Beweise, gegen die kein Einwand möglich ist, gibt es nur in abstrakten Disziplinen wie Mathematik und Logik. Hier spielt sich alles innerhalb eines rein formalen Systems nach fest definierten Regeln ab. Alle anderen Wissenschaften müssen sich an der Realität messen lassen, die uns umgibt.

… der Physik …
Physik und Chemie kommen der absoluten Sicherheit der Mathematik nahe, weil sie mathematisch modellierbar und experimentell beliebig oft wiederholbar sind. Newtons Gravitationstheorie beispielsweise lässt sich in mathematischen Formeln ausdrücken, die sehr präzise Vorhersagen erlauben. Ihre Richtigkeit lässt sich jederzeit experimentell überprüfen. Dennoch gilt Newtons Theorie heute nur noch als eine – immerhin sehr praktikable – Annäherung an die physikalische Realität. Als präziser und treffender hat sich Einsteins Relativitätstheorie erwiesen. Auch eine mathematisch modellierte und unzählig oft überprüfte Theorie kann also eines Tages durch eine bessere Theorie abgelöst werden.

… der Klimaforschung …
Experimentelle Überprüfbarkeit ist ein starkes Kriterium. Aber diesen Maßstab dürfen wir nicht an alle naturwissenschaftlichen Theorien anlegen: Der Urknall beispielsweise ist ein einmaliges Ereignis in der Vergangenheit. Dass er sich ereignet hat, lässt sich aus beobachtbaren Phänomenen erschließen, aber in Experimenten wiederholen lässt sich der Urknall nicht.

Von den Klimawissenschaften sollten wir ebenfalls keine experimentelle Überprüfbarkeit fordern. Denn die Katastrophe, vor der sie warnen, wird ihre volle Wucht erst in der Zukunft entfalten. Ob sich das Schlimmste noch abwenden lässt, ist von Voraussetzungen abhängig, die die Klimaforschung nicht vollständig erfassen und schon gar nicht kontrollieren kann. Nur so viel steht fest: Wir müssen handeln, bevor das Klima kollabiert – sprich: bevor wir den ultimativen Beweis für die Richtigkeit der Katastrophenwarnung in der Hand haben.

… der Biologie ...
Auch das Kriterium der mathematischen Modellierbarkeit ist nicht auf alle naturwissenschaftlichen Theorien anwendbar. In der Biologie beispielsweise ist zwar experimentelle Überprüfbarkeit möglich: Unzählige Laborratten können immer wieder mit demselben Versuchsaufbau gequält werden. Aber in mathematische Formeln gießen lassen sich die Ergebnisse nicht.

Weitere Abstriche müssen wir bei den naturwissenschaftlichen Theorien machen, die weder mathematisch modellierbar noch experimentell überprüfbar sind. Das gilt beispielsweise für die Evolutionstheorie oder für die Paläontologie, also die Wissenschaft historischer Lebewesen, die nur noch als Fossilien verfügbar sind. Doch können auch solche Theorien sehr stichhaltig sein, wenn sie durch hochwertige Funde in hoher Zahl bestätigt werden.

… der Multiversen-Theorie ...
Und dann gibt es noch naturwissenschaftliche Theorien, die weder an der Realität überprüfbar noch mathematisch modellierbar noch experimentell wiederholbar sind. Solche Theorien haben keinerlei Beweiskraft, es handelt sich um reine Spekulationen. Ein Beispiel ist die Multiversen-Theorie, nach der es außerhalb unseres Universums noch weitere Universen gibt. Ob das wahr ist, lässt sich nicht feststellen.

… in den Geschichtswissenschaften … 
Verlassen wir die Sphäre der Naturwissenschaften und wenden wir uns den Geschichtswissenschaften zu. Sie befinden sich in einer wenig komfortablen Situation: Ihr Gegenstand sind historische Ereignisse. Diese können nur manchmal durch archäologische Funde bestätigt werden, wie der Untergang von Pompeji. Oft müssen sich die Historiker auf wenige schriftliche Quellen verlassen, die manchmal erst Jahrzehnte nach dem berichteten Ereignis verfasst wurden. Dürfen wir solchen Quellen trauen? Wie auch immer die Antwort im Einzelnen lauten mag: Historikerinnen bewegen sich auf vergleichsweise dünnem Eis. Damit müssen wir leben, wenn wir über wichtige Ereignisse aus Antike und Mittelalter etwas erfahren wollen.

… vor Gericht ...
Auch viele Gerichtsurteile basieren nicht auf physikalischen Beweisen, sondern auf Aussagen von Zeugen. Wenn glaubwürdige Zeugen unter Eid Aussagen machen, die weder untereinander noch mit der realen Welt in Widerspruch stehen: Dann werden diese Aussagen als Beweise anerkannt. In der Chemie wäre so etwas undenkbar. Im Rechtswesen reicht es aus, um Menschen für Jahre hinter Gitter zu bringen.

… und in der Jenseits-Forschung? 
Und wie verhält es sich mit möglichen Beweisen für ein Leben nach dem Tod: Welche Maßstäbe sollen hier gelten?

Viele wollen den Maßstab so hoch legen, dass er von einer wie auch immer gearteten Jenseits-Forschung mit Sicherheit nicht erreicht werden kann, denn: "extraordinary claims require extraordinary evidence". Schließlich – so ihre Begründung – würde die Annahme eines Jenseits alles infrage stellen, was die Naturwissenschaften erkannt haben.

Ich halte das für falsch. Wenn es eine Dimension geben sollte, die über das naturwissenschaftlich Erfassbare hinausgeht, dann würde sich dadurch an der Naturwissenschaft überhaupt nichts ändern. Ich finde, die Frage nach dem Jenseits sollte genauso untersucht werden wie andere Fragen auch: Sollte sich herausstellen, dass Experimente möglich sind, dann lasst sie uns durchführen. Sollte sich dagegen erweisen, dass Experimente undurchführbar sind, dann lasst sie uns nicht verlangen. Sollten wir bei diesem Thema nichts anderes haben als Zeugenaussagen, dann müssten wir uns eben damit begnügen, diese zu prüfen.

Würden Sie diese Zeugenaussage zur Jenseits-Verhandlung zulassen?
In den 70er-Jahren sprach ein junger Arzt in der Notaufnahme einer psychiatrischen Anstalt mit einer Suizidantin, die gerade aus ihrem Koma erwacht war. Als er sie am Tag zuvor untersucht hatte, war sie noch nicht ansprechbar. Damals war er anschließend in einen anderen Raum gegangen, um dort mit einer anderen Patientin ein Gespräch zu führen. Nun, einen Tag später, reagierte die Suizidantin auf ihn:

„Ich kenne Sie“, sagt sie. – „Das ist möglich“, antwortete er, „ich habe Sie gestern untersucht.“ – „Nein, das meine ich nicht“, erwiderte sie.

Und dann schilderte sie ihm detailliert, was sich bei ihm zugetragen hatte, nachdem er tags zuvor in den anderen Raum gegangen war: Mit wem er gesprochen hatte und worüber, wo er und seine Gesprächspartnerin gesessen hatten, was er getragen und wie sich beide bewegt hatten. Sehr spezifische Einzelheiten also, die sie unmöglich wissen konnte und doch wusste.

Der Arzt, der diese persönliche Erfahrung berichtet hat, war Bruce Greyson. Davor überzeugter Atheist, wurde er durch dieses Erlebnis zum Mitbegründer der International Association of Near-death-studies (IANDS) und zu einem der wichtigsten Nahtod-Forscher.

Ich kann nicht beweisen, dass stimmt, was Bruce Greyson über dieses Erlebnis berichtet hat. Aber ich habe mir einen Eindruck von seiner Persönlichkeit verschafft und habe seinen Bericht auf mich wirken lassen. Seitdem kann ich nicht anders, als ihm zu glauben.

Ich habe also keinen Beweis, mit dem ich eine Skeptiker-Kommission widerlegen könnte. Aber ich habe ein Indiz, das mich überzeugt.

Dass solche Indizien die einen überzeugen, die anderen nicht, liegt in der Natur der Sache: Zeugenaussagen sind nun einmal nicht so zwingend wie mathematische Beweise. Ich schlage vor, dass wir sie trotzdem zulassen. Schließlich geht es hier nicht um Mathematik.

 Dieser Post basiert auf einem Kapitel aus „Dieu - La science Les preuves: L'aube d'une révolution“ von Michel-Yves Bolloré and Olivier Bonnassies (2021).

Theismus vs. Atheismus: Was sagt die Wissenschaft?

Wurde das Universum von einem Schöpfergott erschaffen?

Bei dieser Frage scheinen die Fronten klar zu sein: Die Wissenschaftler stellen fest, dass es keinerlei Hinweise auf einen göttlichen Ursprung gibt. Die Frommen hingegen stellen ihre liebgewonnenen mythologischen Vorstellungen über die wissenschaftlichen Fakten. 

Das ist allenfalls die halbe Wahrheit, schreiben die französischen Autoren Michel-Yves Bolloré und Olivier Bonnassies in ihrem jüngsten Buch „Dieu – La science – Les Preuves“ („Gott – Die Wissenschaft – Die Beweise“, Oktober 2021). Zwanzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben mitgewirkt; das Vorwort stammt von einer Legende der Physik: Robert W. Wilson, Nobelpreisträger und Entdecker der kosmischen Hintergrundstrahlung.

Die Naturwissenschaften unterminieren den religiösen Glauben
Bolloré und Bonnassies geben den Religionskritikern zunächst reht: Die Naturwissenschaften haben tatsächlich den religiösen Glauben untergraben. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden zu Bausteinen eines atheistischen Weltbildes. Die astronomischen Entdeckungen von Copernicus (1543) und Galileo (1610) verbannten den Menschen aus dem Zentrum des Universums. Newton (1687) unterwarf die Natur den Gesetzen der Mechanik. Darwin (1859) degradierte den Menschen zu einem Zufallsprodukt von Mutation und Selektion. Die Sozialwissenschaften zogen nach: Marx (1870) forderte die unterdrückte Arbeiterklasse auf, sich von der alten Ordnung von Kirche und Staat zu befreien. Freud (1896) erklärte Religion für pathologisch und durch unbewusste Impulse motiviert.

Die Mühlen des Wissens mahlen langsam: Es dauerte Jahrhunderte, bis das atheistische Weltbild so weit vorgedrungen war, dass es zumindest in den Naturwissenschaften breite Akzeptanz zu finden schien.

Die Naturwissenschaften unterminieren den atheistischen Glauben
Auch heute mahlen diese Mühlen langsam. Aber inzwischen mahlen sie an der gegenteiligen Erkenntnis: Gott ist zurück. Noch hat es sich nicht herumgesprochen, aber dass der Atheismus sich auf die Naturwissenschaften berufen kann, ist Geschichte.

Es begann mit Einstein: Seine Relativitätstheorie (1905–1915) zeigte, dass Zeit, Raum und Materie nicht ewig, sondern gemeinsam entstanden sind. Muss das Universum dann nicht eine Ursache außerhalb seiner selbst haben?

Urknall: Das Universum hat einen Ausgangspunkt
In die gleiche Richtung wies die – erst später so genannte – Urknalltheorie (ab den 1920er Jahren). Sie kam zu einer Zeit, als es in der Physik als Tabu galt, an der Ewigkeit des Universums zu zweifeln. Der Einwand gegen die Urknalltheorie lautete: Wenn das Universum einen Anfang hatte, dann muss ihn irgendjemand gesetzt haben – womit wir bei der religiösen Vorstellung eines Schöpfergottes wären. Die aber war nicht vorgesehen.

Damit war in den Naturwissenschaften eine bizarre Situation entstanden: Nun waren es nicht mehr die Frommen, die sich aus ideologischen Gründen der Realität verweigerten, sondern diejenigen unter den materialistisch orientierten Wissenschaftlern, deren Atheismus den Charakter einer verbohrten Ideologie angenommen hatte. Die Verfechter der Urknall-Theorie bekamen ihren Widerstand schmerzhaft zu spüren: Obwohl die Urknall-Theorie bereits Jahrzehnte zuvor evident war, wurde sie erst 1964 unter dem Druck unwiderlegbarer empirischer Beweise anerkannt.

Und die Versuche, die Ewigkeit des Universums trotz des Urknalls zu behaupten, gingen weiter: Der Big-Crunch-Theorie zufolge würde sich das Universum nach der aktuellen Expansionsphase irgendwann wieder zusammenziehen, sodass ein zyklischer Ablauf denkbar wurde. Diese Theorie, so Bolloré und Bonnassies, ist seit 1998 widerlegt: Heute wissen wir, dass es im Universum einst nichts geben wird als gleichmäßig verteilte Photonen in einem erkalteten, gigantischen Raum.

Quantenmechanik: Determinismus ist falsch
Auch die Quantenmechanik (1900–1930) scheint mit einem materialistisch-deterministischen Weltbild nur schwer vereinbar. Ihr zufolge ist das eherne Gesetz von Ursache und Wirkung auf der Mikroebene außer Kraft. Elementarteilchen können an zwei Orten gleichzeitig sein, Systeme unabhängig von Raum und Zeit interagieren.

Feinabstimmung: Es ist vernünftig anzunehmen, dass hinter dem Universum ein Plan steckt
Noch fragwürdiger ist die These, nach der das Universum aus ungewollt zufälligen Prozessen entstanden sein soll, angesichts der Feinabstimmung der Naturkonstanten (1960–2020): Die vier Grundkräfte der Physik – Gravitation, Elektromagnetismus, schwache und starke Wechselwirkung – sind äußerst präzise aufeinander abgestimmt. Wäre nur eine dieser Kräfte etwas anders justiert, gäbe es statt unseres Universums entweder nichts oder absolutes Chaos, aber auf keinen Fall Leben.

Allein schon die Beziehung zwischen Elektromagnetismus und Gravitation ist extrem präzise justiert. Wie unwahrscheinlich es wäre, hier zufällig das für das Leben erforderliche Maß zu finden, hat der Mathematiker John Lennox veranschaulicht: Man pflastere eine Fläche von der Größe Russlands mit kleinen Münzen, errichte auf jeder dieser Münzen eine Säule mit weiteren Münzen, deren Höhe der Entfernung zwischen Erde und Mond entspricht, multipliziere das Ganze mit einer Milliarde und greife dann aus dieser gewaltigen Münzmasse blind exakt die Münze heraus, die als einzige rot gefärbt ist. Ob nicht vielleicht doch eine planende Intelligenz die wahrscheinlichere Ursache ist?

Ursprung des Lebens: noch ungeklärt
Weitere Bedrängnis für die Anhänger des Zufalls kommt ausgerechnet aus der Biologie. Angesichts der Evolutionstheorie gilt sie eigentlich als Domäne des Atheismus. Und tatsächlich mag die Vielfalt der Arten mit der Evolutionstheorie erschöpfend erklärt sein. Aber was ist mit dem Ursprung des Lebens? Von seiner Erklärung sind wir, so Bolloré und Bonnassies, viel weiter entfernt, als uns materialistische Biologen glauben machen wollen. Dass uns die Ursuppenexperimente dem Geheimnis wesentlich näher gebracht hätten, ist illusorisch. Der Unterschied zwischen der komplexesten Struktur, die aus diesen Experimenten hervorgegangen ist, und selbst dem einfachsten Einzeller ist so groß wie der zwischen einer Schraube und einem Auto.

Wie unwahrscheinlich es ist, dass sich Leben zufällig aus unbelebter Materie entwickelt haben könnte, hat der Astronom und Mathematiker Fred Hoyle veranschaulicht: Genauso gut könnten wir glauben, dass ein Sturm die Teile eines Ersatzteillagers so durcheinanderwirbeln könnte, dass daraus eine Boeing 747 entsteht.

Aber wer weiß: Vielleicht könnte aus einem Ersatzteillager ja tatsächlich eine Boeing 747 entstehen, wenn nur genug Zeit für zahllose winzige Zwischenschritte bliebe?

Multiversum: Wunschdenken?
Materialisten scheinen das zu glauben. Auch für die Abwehr der Zumutungen von Urknall und Feinabstimmung haben sie sich etwas einfallen lassen: die Multiversum-Theorie. Demnach gibt es nicht nur ein Universum, sondern unendlich viele, deren Parameter rein zufällig irgendwie justiert sind, ohne dass irgendein Plan dahintersteckt. Die schiere Masse der Universen erklärt dann, warum unser Universum zufällig lebensfreundlich justiert ist. So wie es statistisch erklärbar ist, dass jemand im Lotto den Jackpot knacken kann, wenn nur genügend Spieler mitmachen.

Ist also unser Universum dasjenige, das zufällig die rote Münze der Lebensfreundlichkeit gezogen hat, weil unendlich viele andere Universen sie nicht gezogen haben?

Das lässt sich nicht widerlegen. Aber ist das noch Physik? Die Multiversum-Theorie basiert auf reiner Spekulation, sie kann durch keine Experimente falsifiziert werden. Ist sie also nicht eine der Theorien, von denen Wissenschaftstheoretiker sagen, sie seien „so schlecht, dass sie nicht einmal falsch sind“? Ist sie mehr als ein verzweifelter Versuch, die Annahme eines intelligenten Plans hinter unserer Existenz wegzuerklären, koste es was es wolle?

Wer hält sich an Fakten, wer praktiziert Wunschdenken? Ich würde die Frage zumindest offen lassen.

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel, den ich für den Newsletter des Netzwerk Nahtoderfahrung geschrieben habe.