Samstag, 17. September 2022

Nahtoderfahrungen: Warum die gängigen physiologischen Erklärungen nicht ausreichen

Read this post in English

In Todesnähe machen viele Menschen die intensivste Erfahrung ihres Lebens: eine Nahtoderfahrung. Sie verlassen – so berichten sie später – ihren Körper, beobachten die Wiederbelebungsmaßnahmen von oben, gelangen in eine andere Welt, begegnen dort verstorbenen Angehörigen und einem Lichtwesen, das sie bedingungslos liebt, durchleben ihr Leben noch einmal aus der Perspektive der Menschen, mit denen sie gut oder schlecht umgegangen sind, und kehren schließlich zurück in ihren Körper, weil ihre Aufgabe in diesem Leben noch nicht erfüllt ist. Danach sind sie unerschütterlich davon überzeugt, dass ihr Leben einen Sinn hat und dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Ihre Werte wandeln sich: Sie sind nun nicht mehr wettbewerbs- und erfolgsorientiert, sondern legen Wert darauf, im Hier und Jetzt voll präsent zu sein und den Menschen, mit denen sie gerade zu tun bekommen, liebevoll zu begegnen.

Ist diese Erfahrung eine Sinnestäuschung des sterbenden Gehirns? Dann müsste sie eigentlich physiologisch vollständig erklärbar sein, sei es jetzt oder in Zukunft. Oder geschieht sie tatsächlich am Übergang in die jenseitige Welt, die uns nach unserem Tod erwartet und von der her unser diesseitiges Leben seinen Sinn erhält? Dann müsste jede physiologische Erklärung an eine Grenze stoßen, die unüberwindbar bleibt.

Wenn es einen Experten für diese Fragen gibt, dann ist es Bruce Greyson. Der Psychiater und Neurowissenschaftler ist Naturwissenschaftler durch und durch. Lange war er wie wohl die meisten seiner Kollegen überzeugt: Alles, was ist, besteht aus Physik; Gott existiert nicht; Geist gibt es nur als erdgeschichtlich spätes Nebenprodukt komplexer Materie; wenn das Gehirn stirbt, stirbt auch das Bewusstsein. Dieses physikalistische Weltbild gab er erst auf, als er eine persönliche Erfahrung machte, die damit unvereinbar ist. Seitdem erforscht er mit der Sorgfalt und Expertise eines Naturwissenschaftlers das Phänomen Nahtoderfahrung.

Was hat er herausgefunden? Darüber berichtet er unter anderem in seinem jüngsten Buch („After“, zu Deutsch „Nahtod“). Im Folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf sein Kapitel über Nahtoderfahrungen aus dem Sammelband „Consciousness Unbound“ von Edward Kelly u. a. (2021).

Die physiologischen Erklärungsversuche und ihre Grenzen
Wie sich Greyson mit allen gängigen physiologischen Erklärungsversuchen auseinandersetzt: Davon kann ich hier nur eine knappe Zusammenfassung bieten. Wenn Sie es genauer wissen möchten, lesen Sie bitte Bruce Greyson selbst. Bei ihm finden Sie auch die entsprechenden Literaturbelege und Hinweise auf weiterführende Literatur.

Sind Nahtoderfahrungen verursacht durch ...

  • … Sauerstoffmangel?
    Dagegen spricht:
    Nahtoderfahrungen ereignen sich auch bei erhöhtem oder normalem Sauerstoffgehalt im Blut.

  • … einen erhöhten CO2-Gehalt im Blut?
    Dagegen spricht:
    Zu Nahtoderfahrungen kommt es auch bei niedrigem und normalem CO2-Gehalt.

  • … Fehlfunktionen des Gehirns?
    Dagegen spricht:
    Fehlfunktionen des Gehirns beeinträchtigen die Denkfähigkeit und führen zu wirren Halluzinationen. Dagegen berichten Nahtoderfahrene von gedanklicher Klarheit. Ihre Wahrnehmungen sind nicht wirr, sondern haben einen sinnvollen inneren Zusammenhang.

  • … Medikamente?
    Dagegen spricht:
    Zu Nahtoderfahrungen kommt es auch ohne Medikamente. Ja, Patientinnen und Patienten, die Medikamente erhalten, berichten sogar seltener von Nahtoderfahrungen als solche, die keine erhalten.

  • … Drogen?
    Dagegen spricht:
    Zwar erzeugen manche Drogen Erfahrungen, die man als spirituell bezeichnen kann. Aber diese unterscheiden sich erheblich von Nahtoderfahrungen. Das gilt auch für den Ketamin-Rausch, dem eigentlich die größte Ähnlichkeit mit Nahtoderfahrungen nachgesagt wird. Während Nahtoderfahrungen meist beglückend sind, überwiegen bei Ketamin die erschreckenden Erlebnisse.
    Vor allem aber ereignen sich die meisten Nahtoderfahrungen nicht unter Drogeneinfluss.

  • … REM-Aktivität im Gehirn, wie sie für Traum-Zustände typisch ist?
    Als REM wird die Schlaf-Phase bezeichnet, in der die meisten Träume stattfinden.
    Psychiater spekulieren, dass eine solche REM-Aktivität vom sterbenden Gehirn hervorgerufen werden könnte, um die Angst vor dem Tod zu nehmen. Dabei denken sie insbesondere an Wahrnehmungen aus der so genannten „REM-Intrusion“ wie ein außergewöhnliches Licht oder das Gefühl, tot zu sein.
    Dagegen spricht:
    Nach einer REM-Erfahrung ist uns klar, dass wir geträumt haben. Dagegen sind Nahtoderfahrene unerschütterlich davon überzeugt, dass ihr Erlebnis real war.
    Vor allem aber: 
    Nahtoderfahrungen treten häufig unter Bedingungen auf, die eine REM-Aktivität unmöglich machen, beispielsweise in Vollnarkose.

  • ... verborgene Hirnaktivität, die da ist, ohne vom Elektroenzephalogramm (EEG) erfasst zu werden?
    Dagegen spricht:
    Es mag sein, dass es während einer Nahtoderfahrung zu 
    irgendwelchen Hirnaktivitäten kommt, die nicht messbar sind. Aber die entscheidende Frage ist eine andere: Kommt es während der Nahtoderfahrung zu denjenigen Hirnaktivitäten, die Neurowissenschaftler als notwendige Voraussetzung für bewusste Erfahrungen ansehen? Diese Hirnaktivitäten sind sehr wohl messbar. Und es gibt Nahtoderfahrungen, die zu einem Zeitpunkt stattgefunden haben, an dem gemessen wurde, dass diese Hirnaktivitäten nicht vorhanden waren.

  • … einen Anstieg der elektrischen Aktivität im Gehirn zum Zeitpunkt des Todes?
    Dagegen spricht:
    Dieser Anstieg ist mit dem Standard-EEG nicht messbar. Deshalb wurde er bisher nur mit der Bispektralindex-Methode festgestellt. Diese ist jedoch sehr störungsanfällig. Verschiedene Signale im Körper, aber auch aus der Umgebung können leicht als Hirnaktivität fehlgedeutet werden.
    Hinzu kommt: Wo dieser Anstieg gemessen wurde, konnte noch nie ein Zusammenhang mit Nahtoderfahrungen festgestellt werden.

Verbleibt im sterbenden Gehirn genügend elektrische Aktivität, um eine lebendige und komplexe Erfahrung zu produzieren? In den Gehirnen sterbender Ratten wurde 30 Sekunden nach dem Herzstillstand elektrische Aktivität gemessen. Diese war jedoch äußerst gering. Sie betrug nur einen Bruchteil der elektrischen Aktivität davor. Dieser schwachen Aktivität die Produktion von Nahtoderfahrungen zuzutrauen, widerspräche Jahrzehnten klinischer Erfahrung und Forschung.

Vor allem aber: Der Anstieg elektrischer Aktivität nach Herzstillstand in den Gehirnen von Ratten lässt sich durch Anästhesie vollständig eliminieren. Nahtoderfahrungen ereignen sich jedoch auch unter Anästhesie.

Lassen sich Nahtoderfahrungen einer Hirnregion zuordnen?
Ausführlich geht Greyson auch auf die Versuche ein, durch Stimulation bestimmter Hirnregionen herauszufinden, in welcher Region Nahtoderfahrungen angesiedelt sind. Als Hauptkandidat gilt hier der rechte Schläfenlappen. Tatsächlich wurden jedoch Außerkörperlichkeitserfahrungen nach Hirnoperationen berichtet, die die unterschiedlichsten Hirnregionen betrafen.

Wahrnehmungen, die durch die Stimulation von Hirnregionen künstlich hervorgerufen werden, unterscheiden sich von Nahtoderfahrungen erheblich:

  • Nahtoderfahrene teilen immer wieder aus ihren Außerkörperlichkeitserfahrungen korrekte Beobachtungen mit, die zur Voraussetzung haben, dass sie tatsächlich ihren Körper verlassen haben. Das ist bei künstlich hervorgerufenen Außerkörperlichkeitserfahrungen nicht der Fall.

  • Die Lebensrückblicke in Nahtoderfahrungen sind konsistent, präzise, unvergesslich, sinnstiftend und lebensverändernd. Dagegen sind künstlich hervorgerufene Erinnerungen flüchtig und traumartig und bewirken keine Änderung in der Lebenseinstellung.

Gegen die Zuordnung von Nahtoderfahrungen zu einer bestimmten Hirnregion spricht auch, dass Erinnerungen an Nahtoderfahrungen zu Aktivitäten in mehreren Hirnregionen führen.

Neuere Entwicklungen
Im März 2022 ging eine Nachricht durch die Presse, nach der estnische Neurochirurgen die naturwissenschaftliche Erklärung für Nahtoderfahrungen gefunden hätten. Was Greyson dazu zu sagen hat, habe ich in meinem Post vom 22. August 2022 zusammengefasst.

Leider habe ich von Greyson noch keine Stellungnahme zu den Versuchen gefunden, Nahtoderfahrungen durch Entladungswellen der Nervenzellen zu erklären. Zu diesen Wellen komme es einige Minuten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand, sagt der Neurologe Jens Dreier in Spektrum der Wissenschaft online (5.8.2022). Ihm zufolge breiten sie sich nach und nach im gesamten Hirn aus, dessen Aktivität eigentlich bereits 30 bis 40 Sekunden nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand erloschen ist. Könnten diese Entladungswellen die Ursache sein für die Lichterscheinungen in Nahtoderfahrungen? Dreier schließt das nicht aus, bringt jedoch noch eine andere Möglichkeit ins Spiel: körpereigene Drogen, die vielleicht in diesem Zusammenhang ausgeschüttet würden. Allerdings bezeichnet er diese Möglichkeiten selbst als „reine Spekulation“. Und weil die Entladungswellen erst Minuten nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand einsetzen, können sie kaum diejenigen Nahtoderfahrungen erklären, die vor diesem Zeitpunkt stattfinden.

Zwischenbilanz
Alle bisher vorgelegten physiologischen Erklärungen für Nahtoderfahrungen haben zur Voraussetzung, dass ein Teil der Realität von Nahtoderfahrungen ausgeblendet wird: Entweder man ignoriert diejenigen Nahtoderfahrungen, für die die vorgeschlagenen physiologischen Bedingungen nicht zutreffen. Oder man ignoriert Merkmale einer Nahtoderfahrung, die so nicht erklärt werden können.

Aber vielleicht braucht es ja gar nicht die eine Erklärung für alle Nahtoderfahrungen? Könnte man nicht stattdessen „Nahtoderfahrung“ auffassen als einen Sammelbegriff für verschiedene Phänomene mit unterschiedlichen physiologischen Ursachen?

Dagegen sprechen einige Merkmale, die die meisten Nahtoderfahrungen gemeinsam haben: Sie werden als real erfahren, meist sogar als realer als die Wirklichkeit, die uns sonst umgibt; sie sind äußerst komplex und konsistent; und sie vermitteln kulturübergreifend dieselben Werte: Worauf es im Leben ankommt, sind nicht Status und materieller Wohlstand. Vielmehr sind wir auf der Erde, um zu lieben und zu lernen.

Zeigen Nahtoderfahrungen, dass sich das Bewusstsein vom Körper lösen kann?
Einige Phänomene, die mit Nahtoderfahrungen einhergehen, gelten vielen als konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das Bewusstsein sich vom Körper lösen kann:

  • Gesteigerte geistige Aktivität zu einem Zeitpunkt, zu dem eine solche Aktivität nach dem aktuellen Stand der Hirnforschung nicht möglich ist.

  • Wahrnehmungen während der eigenen Operation von einer Perspektive außerhalb des eigenen Körpers aus, die nachträglich von dritter Seite überprüft und bestätigt werden.

  • Nachträglich bestätigte Wahrnehmungen mit Sinnesorganen zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Sinnesorgane ausgeschaltet sind (z. B. visuelle Wahrnehmungen trotz zugeklebter Augen während einer Operation).

  • Nachträglich bestätigte Beobachtungen an weit entfernten Orten, an denen sich die wahrnehmende Person zum Zeitpunkt ihrer Beobachtung körperlich nicht befand.

  • Visuelle Wahrnehmungen von Blinden, darunter von Menschen, die von Geburt an blind sind.

In dieselbe Richtung deutet auch das Phänomen der terminalen Geistesklarheit: Hochgradig demente Menschen zeigen manchmal kurz vor ihrem Tod eine geistige Klarheit, die angesichts ihrer irreversiblen Hirnschäden eigentlich nicht mehr möglich sein sollte.

Sind Nahtoderfahrungen Anlass zur Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod?
Wenn das Bewusstsein sich vom Körper lösen kann: Bedeutet das, dass wir Grund haben zu der Hoffnung, dass das Leben nach dem Tod weitergeht? Dafür sprechen die folgenden Gesichtspunkte:

  • Die Überzeugung fast aller Nahtoderfahrenen, dass sie – oder ein Teil von ihnen – nach dem Tod weiterleben werden.

  • Nahtoderfahrungen von Kindern: Diese berichten nie von Begegnungen mit ihren nächsten lebenden Bezugspersonen, sondern stets von Begegnungen mit bereits verstorbenen Menschen. Das spricht dagegen, dass es sich um Phantasien handelt.

  • Begegnungen mit kürzlich Verstorbenen, von deren Tod die Person vor ihrer Nahtoderfahrung nichts wusste. Darin, ob eine Person verstorben oder noch lebend sei, haben sich Nahtoderfahrene noch nie getäuscht.

  • Begegnungen mit nahestehenden Verstorbenen, von denen der oder die Nahtod-Erlebende zuvor nichts wusste, zum Beispiel mit dem verleugneten leiblichen Vater oder mit einem früh verstorbenen Geschwisterkind, das die Eltern verschwiegen hatten.

  • Nahtoderfahrene sind immer überzeugt, dass sie während ihrer Erfahrung realen Personen begegnet sind.


Fazit
Nahtoderfahrungen sind äußerst intensive, komplexe und konsistente Erlebnisse, die sich oft unter Bedingungen ereignen, unter denen sie nach den gegenwärtigen neurophysiologischen Modellen unmöglich sind. Manchmal gehen sie einher mit Phänomenen, die mit dem heutigen naturwissenschaftlichen Weltbild unvereinbar sind. Die Erlebenden selbst halten ihre Erfahrungen für real und sind danach unerschütterlich überzeugt, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.

Dieser Befund zwingt Sie zu nichts. Wie Sie damit umgehen, bleibt Ihnen überlassen. Zu welchem Schluss auch immer Sie kommen: Sie werden immer Expertinnen finden, die Ihnen recht geben, und Experten, die Ihnen widersprechen. Denn hier rühren wir an die letzten Fragen. Und zu denen können Expertinnen und Experten allenfalls Anhaltspunkte liefern. Ausschlaggebend ist etwas anderes: Ihre persönliche Urteilskraft. Dass Sie sich von keinen Experten gar zu sehr beeindrucken lassen, egal welcher Richtung sie angehören, sondern sich ein eigenes Urteil zutrauen: Das wünsche ich Ihnen.

Quellen

  • Über das Erlebnis, das Bruce Greysons ursprünglich materialistisches Weltbild erschüttert hat, berichtet er zu Beginn seines Buches „After“, zu Deutsch „Nahtod“ (Leseprobe kostenlos).

  • Consciousness Unbound

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen